Mythos: Laut buddhistischer Psychologie ist das Leben Leiden (falsch).
Diese falsche Vorstellung in Bezug auf eine der zentralen Lehren Buddhas ist mir immer wieder begegnet. Da ich verstehe, dass ein solches Verständnis der ersten der sogenannten “Edlen Wahrheiten” äußerst abschreckend ist, versucht dieser Blogeintrag, zur Aufklärung dieses Missverständnisses beizutragen.
Richtiger ist es zu sagen “Das Leben ist auch Leiden.” oder “Das Leben bringt Leiden mit sich.” Diese Nuancen sind wichtig. Denn selbstverständlich bringt das Leben, ebenso wie Leiden (Dukkha) auch andere Empfindungen mit sich wie z. B. pure Freude.
Bei mir persönlich hat die Anerkennung der Tatsache, dass das Leben auch Leiden ist, bisher bereits ein paar subtile Änderungen im Umgang mit Situationen, die mir Leid erzeugen, bewirkt:
- Ich verbringe im leidvollen Moment an sich weniger Zeit und wende weniger Gedanken darauf auf, mich zu fragen “Warum ich?”, “Was habe ich falsch gemacht, dass mir das jetzt passiert?”, “Wann ist das endlich vorbei?” Der zweite Pfeil, mit dem ich mich selbst verletze, nachdem mich ein erster Pfeil in Form von Leid getroffen hat, ist kleiner geworden und bleibt manchmal schon ganz aus.
- Paradoxerweise hilft mir das Annehmen der leidvollen Erfahrung einfach als Teil meines Lebens dabei, mich schneller mit Selbstmitgefühl dem zuwenden, was ich dann wirklich brauche. Ähnlich wie ich ein Kind, das sich geschnitten hat, nicht lange fragen würde, warum und wie das passiert ist, sondern erstmal ein Pflaster besorgen würde.
- Aus dieser selbstmitfühlenden und nicht urteilenden Haltung mir selbst gegenüber heraus, fällt es mir so viel leichter, klar zu sehen, welche Mechanismen am Werk waren, mir ehrlich einzugestehen, welchen Anteil ich selbst daran hatte, und welche weisen Handlungen nun empfehlenswert sein könnten.
Mir persönlich hat es geholfen, Leiden als universellen Teil meines Lebens anzuerkennen und mich vor diesem Hintergrund etwas gelassener damit auseinanderzusetzen. Eine der unzähligen hilfreichen Geschichten, die Psychotherapeutin und Meditationslehrerin Tara Brach gern erzählt, handelt in etwa so:
Der Schattengott Mara, der unter anderem Unheil und Chaos verkörpert, wartet in der Nacht vor Buddhas Erleuchtung mit allem auf, was er zu bieten hat: Gier, Wut, Zweifel und so weiter. Am Morgen Buddhas Erleuchtung zieht sich Mara zurück, da er gescheitert ist. Doch wie es schien, hat Mara sich nur kurzzeitig abschrecken lassen, denn auch nachdem Buddha die Erleuchtung erlangt hat und bereits wohlbekannt ist, erscheint Mara immer wieder überraschend. Anstatt Mara zu ignorieren oder zu bekämpfen, grüßt Buddha Mara, sagt: “Ich sehe Dich, Mara.” und lädt ihn zum Teetrinken ein. Mara bleibt eine Weile und geht dann wieder. Und Buddha bleibt unbeeindruckt und unbehelligt.
Ebenso, wie ich für meine Freunde und Familie nicht nur in guten Zeiten da sein, ihr Leiden nicht ignorieren oder gar von mir stoßen will, versuche ich, auch mit mir selbst liebevoll, geduldig und gelassen umzugehen. Auch – und gerade wenn – das Leben eben gerade mal wieder Leiden mit sich bringt.