Ich saß auf meinem Meditationskissen, als es passierte. Es war der dritte Tag eines einwöchigen Schweigeretreats. Ich war in eine der vielen Vipassana-Meditationen versunken, als mir ein scharfer Schmerz in mein linkes Ohr fuhr.
Nach dem ersten Schrecken war ich in der Lage, den Schmerz als das anzunehmen, was er war. Als erfahrene Meditierende lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf den Schmerz und versuchte, ihm viel Mitgefühl entgegenzubringen. Innerlich fragte ich: “Hast Du eine Botschaft für mich?” Es dauerte eine Weile, bis sich aus meinem Versuch, mich dem Schmerz wirklich zuzuwenden, tatsächlich eine vorsichtige, mitfühlende Öffnung entwickelte. Ich war mir sicher, dass es wichtig war, dabei zu bleiben, also blieb ich.
Für diejenigen von euch, die mich nicht persönlich kennen, ist vielleicht eine Hintergrundinfo hilfreich: Mein linkes Ohr habe ich seit jeher als meine Hauptschwachstelle gesehen. Bereits als kleines Kind war ich regelmäßig von starken Ohrenschmerzen geplagt, im Alter von fünf Jahren hatte ich meine erste OP im HNO-Bereich. Fünf weitere sollten folgen. Vier davon waren langwierige – teilweise nicht minimalinvasive – Eingriffe an meinem linken Ohr, bei denen meine Gehörknöchelchen entfernt und gegen ein künstliches Implantat ausgetauscht wurden. Soweit die Fakten. Eine andere Realität rund um diese Krankheitsgeschichte beinhaltet all das, was ich dadurch als Kind erlebt habe. Starke Schmerzen, unzählige Termine bei Ärzten und im Krankenhaus, mit Behandlungen, die schmerzhaft waren, Untersuchungen, die mir Stress bereitet haben, Angst davor, dass wieder operiert werden muss, Angst davor, sich zu erkälten, weil das dann schnell wieder bedeuten könnte, das Ohr entzündet sich und alles geht von vorne los, und – wie ich erst als Erwachsene begriffen habe – das damit einhergehende Gefühl der Verunsicherung, weil ich mich nicht auf meinen Körper verlassen konnte, das grundlegende Gefühl, dass ich immer aufpassen muss, weil ich da eine Schwachstelle habe, weil bei mir ja was nicht so ganz stimmt. Dabei war ich, soweit ich mich erinnere, immer “tapfer”. Immer kooperativ mit den Schwestern und Ärzten. Wenn mir zum Weinen zumute war, hab ich sicherlich oft auch geweint, aber oft hab ich meine Ängste auch einfach mit Fröhlichkeit und sogar Humor überspielt.
Die letzte OP hatte ich, glaube ich, mit 18 Jahren. Seitdem habe ich meinen Ohren gegenüber die Vogel-Strauß-Technik angewendet, also das Thema ignoriert und auf Erkältungen und Ohrenschmerzen höchstens mit enormer Gereiztheit und Ungeduld reagiert.
Nun saß ich etwa 17 Jahre später auf meinem Meditationskissen und brachte endlich den Mut auf, mich diesem speziellen physischen und seelischen Schmerz zuzuwenden. Ich hatte dank meiner Achtsamkeitspraxis gelernt, dass alles einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat – auch Schmerz. Und dass wir diesen Zyklus mit etwas Übung beobachten können, anstatt uns in den Geschichten rund um unser Leiden zu verlieren. Das versuchte ich nun.
Und dann machte mein Geist eine Reise in Erinnerungen, die ich wohl jahrelang unter einem Deckel gehalten hatte. Ich war wieder Kind, war wieder im Krankenhaus, lag im Bett und wurde gerade Richtung Operation gerollt. Sehr deutlich nahm ich meine Mutter war, die neben dem Bett herging und meine linke Hand hielt. Sehr deutlich nahm ich auch das Stofftier war, das ich in der rechten Hand hielt: Einen Pinguin, den ich sehr liebte. Dann kam die Tür, durch die meine Mutter nicht mehr mitdurfte. Sie sagte zu mir, dass sie auf mich warten und da sein würde, wenn ich wieder aufwache. Ich sah, wie ich durch die Tür gerollt wurde und meine Mutter immer kleiner wurde. Dann nahm eine Schwester auch den Pinguin und meinte, der müsse nur kurz weg, damit irgendwas angschlossen werden kann – ich hörte nicht mehr zu.
Meinem erwachsenen Ich, das da auf dem Meditationskissen saß, liefen Tränen über’s Gesicht, das Herz schlug laut und schnell, der Atem ging unruhig und ich hörte mich flüstern: “Bitte bleib’ hier. Bitte bleib’ hier. Bitte bleib’ hier.” Ich war voller Mitgefühl mit diesem kleinen Kind, das große Angst hatte und sehr darunter litt, dass es sich in diesem Moment so alleine fühlte. Ebenso großes Mitgefühl spürte ich mit meiner Mutter. Ich habe selbst keine Kinder, weiß es also nicht wirklich, aber mein Herz konnte sich sehr gut vorstellen, wie herzzerreißend dieser Moment auch für sie gewesen sein musste. Ich blieb da. Lies all das zu.
Dann legte ich meine Hand auf mein Herz, um durch diese liebevolle Geste und durch die Wärme meiner Hand Kraft in meinen Herzraum zu schicken. Ich hielt das kleine ängstliche Kind und die traurige Frau in meinem Herzraum und schickte ihnen so viel Mitgefühl und Liebe, wie ich nur konnte. Ich begann, zu flüstern “Es tut mir leid, dass das so schwer für euch war. Ich weiß, ihr habt Angst. Ist schon gut. Alles wird gut.” Ich weiß nicht, wie lang ich so Mitgefühl praktizierte, aber nach einer Weile beruhigte sich mein Herzschlag, mein Atem wurde wieder ruhiger und die Tränen trockneten. Der stechende Schmerz in meinem Ohr war einem dumpfen Druck gewichen, der aber nicht mehr weh tat. Während ich mich wieder ins Hier und Jetzt zurück begab, war ich noch etwas durcheinander. Irgendwann während der darauffolgenden Tage beschloss ich, dieses Thema auch im Außen zu bearbeiten.
Ich machte einen Termin zur Kontrolle aus. Zum einen, weil ich die Medizin bestätigen lassen wollte, was ich intuitiv schon wusste, nämlich, dass dieser Schmerz keine physische Ursache gehabt, sondern mich dazu animieren wollte, dieses Thema zu verarbeiten. Zum anderen, weil ich mir sicher war, es würde heilsam werden, mich mit meinem heutigen wachen Bewusstsein in das Umfeld zu begeben, das für mich damals offensichtlich so furchteinflößend war, auch wenn ich mir das lange nicht eingestehen wollte.
Letzten Mittwoch war es soweit: Ich fuhr zu dem Krankenhaus, in dem ich als Kind und Jugendliche so viel Zeit verbracht habe. Der Termin war mittags, bereits vormittags war meine Stimmung recht düster. Ich hatte keine Lust – klar. Ich machte Yoga und meditierte, räumte meine Wohnung auf und und und – die schlechte Laune blieb. Selbstverständlich war das für mich in Ordnung. Ich erwartete an einem solchen Tag keine Fröhlichkeit von mir. Auf der Autofahrt ins Krankenhaus war ich mir dessen bewusst, wie ich immer nervöser wurde. Obwohl ich eigentlich davon überzeugt gewesen war, dass alles in Ordnung sein würde, kam dieselbe alte Geschichte in mir auf: “Was, wenn jetzt doch wieder etwas ist? Was, wenn sie operieren müssen? Hoffentlich ist mein Gehör nicht schlechter geworden.” und so weiter. Der Abstand zu der Situation ging mir immer mehr verloren. Als ich im Parkhaus angekommen und den Motor abgestellt hatte, war mein ganzer Körper angespannt. Mein Atem war flach. Meine Hände waren zittrig. Ich hatte Angst.
Erneut nahm ich die Praxis des Selbstmitgefühls zu Hilfe, legte mir eine Hand auf’s Herz, beobachtete meinen Atem und sprach mir selbst liebevoll zu. “Es tut mir leid, dass das für Dich so schwer ist. Ist schon gut. Du bist sicher und geborgen in der Welt.” Ich hatte genügend Zeit eingeplant und saß, glaube ich, ungefähr 15 Minuten im Auto, bevor es leichter wurde, ich meine Augen wieder öffnete und in dem Wissen, dass ich das alles gut “überstehen” würde, ausstieg und meiner Heilung entgegenging.
Während des Termins kamen immer wieder Wellen von Stress und Angst, denen ich mitfühlend begegnete. An einem Punkt bat ich während einer Untersuchung um eine Pause, weil es mir in dem Moment zu viel wurde. Ein Schritt, der mich Mut kostete, aber mit weiterem Heraustreten aus der gefühlten “Opferrolle” belohnt wurde. Ein sehr zugänglicher und netter Arzt bestätigte mir, dass mit meinem Ohr alles in bester Ordnung ist. Auch der Hörtest fiel “für ein operiertes Ohr ganz okay” aus. Fazit: Alle zwei bis drei Jahre zur Kontrolle kommen und sich ansonsten keine Sorgen machen.
Ich weiß nicht, ob es für Dich, liebe Leserin, nachvollziehbar ist. Aber dank dieser schweren Arbeit, die ich da geleistet habe, durfte ich eine umso schwerere Last ablegen. Im Laufe des Nachmittags bröckelte eine weitere Schicht aus “Etwas stimmt mit mir nicht” langsam von mir ab. Wie Schorf von einer sehr alten Wunde, die nun endlich geheilt ist. Eine tiefe Ruhe stellte sich ein. Und Stolz. Darauf, dass ich stark genug bin, solche innere Arbeit zu leisten. Darauf, dass ich mutig genug war, meiner Intuition zu gehorchen und mich diesem Thema zuzuwenden. Ich habe Dir diese sehr persönliche Geschichte erzählt, um Dir zwei Dinge zu sagen. Erstens: Wir dürfen unserem Körper und unserer Intuition vertrauen. Sie wissen oft ganz genau, wann der richtige Zeitpunkt für etwas gekommen ist, und schicken uns Botschaften. Mit einer reglmäßigen Meditationspraxis erleichtern wir es uns, dafür offen zu sein und lernen so, Hinweise anzunehmen, die für unsere weitere Heilung wertvoll sind. Zweitens: Manchmal wissen wir erst, wie stark wir sind, wenn wir uns – in einem sicheren Umfeld – etwas zutrauen, von dem wir dachten, wir seien nicht stark genug dafür. “Negative” Gefühle wie Angst, Wut, Scham oder Traurigkeit sind wichtige Botschafter. Mit den richtigen meditativen Techniken können wir gute Beziehungen zu ihnen eingehen, uns mit ihnen anfreunden und unser Leben dadurch insgesamt gesünder, lebenswerter, reicher und zufriedener machen.
Danke für Dein Interesse. In Liebe und Mitgefühl
Deine Saskia
P.S.: Wenn Du ein Trauma verarbeiten möchtest, empfehle ich Dir die Arbeit mit Traumatherapeuten. Meditation ersetzt – insbesondere bei Anfängern – keinen Besuch beim Arzt oder Therapeuten.