In einem kürzlich erschienenen Artikel berichtet die FAZ(1) über negative Auswirkungen bzw. „Nebenwirkungen“ der Achtsamkeits“therapie“. Zugegeben unter der für meinen Geschmack etwas zu reißerischen Überschrift „Achtsamkeit – Diese Therapie kann Symptome verschlimmern“; dennoch begrüße ich die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema in der Tagespresse sehr!
Denn in diesem Bereich, in dem wir als Achtsamkeitstrainer/-innen bei und mit Menschen an deren Körper, Geist und Seele arbeiten, können wir es uns nicht leisten, bei Fragen nach ungewünschten Wirkungen den Kopf in den Sand zu stecken. Einige der Kommentare im Netz lassen ganz eindeutig auf den Mangel von Achtsamkeit im Leben ihrer Verfasser schließen. So lautet einer der Kommentare in etwa: Zu behaupten, Achtsamkeitspraxis könne auch negative Auswirkungen haben, sei so, als behaupte man, der Atem könne negative Auswirkungen haben. Erstens: Kann er. Zweitens: Dass bestimmte Techniken, die unter anderem in der Achtsamkeitspraxis angewandt werden, bei bestimmten Personenkreisen auch negative bzw. unerwünschte Wirkungen aufweisen können, ist keine bloße Behauptung der Autorin des FAZ-Artikels, sondern wissenschaftlich untersucht und belegt. Wer als Achtsamkeitstrainer/-in als oberste Priorität das Wohlergehen der eigenen Kursteilnehmer bzw. Klienten hat, reagiert nicht mit einer Abwehrhaltung, sondern mit offenem Interesse; idealerweise mit der Frage danach – wie können wir solche unerwünschten Wirkungen verhindern, abmildern oder begleiten. Professionelle Achtsamkeitstrainer/-innen stellen sich diese Fragen im Übrigen nicht erst seit Kurzem, sondern bereits seit einigen Jahren. Gute Achtsamkeitstrainer/-innen wissen um die Thematik sowie um die – ebenfalls wissenschaftlich erforschten und belegten – Möglichkeiten, denjenigen Personengruppen, für die Achtsamkeitsmeditation unerwünschte Wirkungen haben kann (nicht muss), sicherere Wege in die Achtsamkeitspraxis zu zeigen. Den Umgang, den solche Achtsamkeitstrainer/-innen mit unerwünschten Wirkungen der Achtsamkeitsmeditation an den Tag legen, nenne ich im Folgenden einfach den „weisen Umgang mit Nebenwirkungen“.
Ein weiser Umgang mit Nebenwirkungen ist es – ich schreibe bewusst nicht wäre es, denn den besseren Umgang gibt es bereits –, sich als Achtsamkeitstrainer/-in über die Risiken und Gefahren der Praxis ebenso im Klaren zu sein wie über die vielen positiven Wirkungen, die der Artikel übrigens auch beschreibt. Zum Beispiel: „Mit dem Training, so zeigten Forscher aus Freiburg im Jahr 2004 in einer Metaanalyse (2) aus 20 Studien mit 1605 Teilnehmern, kamen Patienten mit diversen Krankheiten im Alltag besser klar, sie fühlten sich körperlich und psychisch besser, waren weniger ängstlich oder depressiv.“ Oder: „Durch das Training besserten sich die für Depressionen typischen Symptome – also etwa Niedergeschlagenheit und Antriebsarmut – bei 60 Prozent der Patienten.“ Eine neuere Studie, die sich explizit mit unerwünschten Wirkungen von Achtsamkeitsmeditation befasst (3) und auf die sich der FAZ-Artikel stützt, fand heraus, dass eine bestimmte Form des Achtsamkeitstrainings bei 80 Prozent der Teilnehmer/-innen mit Angststörungen keine Wirkung hatte. Dann folgt der Part, der sich auf unerwünschte beziehungsweise negative Wirkungen bezieht: Bis zu fünfzehn Prozent der Angstpatienten berichteten nach manchen Sitzungen, die Symptome hätten sich verschlimmert. Wie lange das anhielt, war bei den betroffenen Teilnehmer/-innen unterschiedlich und reichte von bis zu einer Woche bis mehrere Monate. Auch die Symptome an sich sind durchaus gravierend und beinhalteten unter anderem Schlaflosigkeit, Angst oder Panik, Wiedererleben traumatischer Erlebnisse.
Ich will noch einmal betonen, dass wir als Achtsamkeitstrainer/-innen meiner Meinung nach die Pflicht haben, diesen Umstand ernst zu nehmen. Da ich zum Thema „unerwünschte Wirkungen von Achtsamkeitsmeditation“ bereits mehr weiß, als im oben genannten Artikel angesprochen wird, möchte ich hierzu gerne folgende Punkte ergänzen:
- Nicht nur Menschen mit Angststörungen, auch Menschen, die ein Trauma erlitten haben und es nicht integrieren konnten, sind bei der Achtsamkeitsmeditation Risiken ausgesetzt.
- Dieses Risiko betrifft konkret die Achtsamkeitsmeditation, nicht die gesamte Achtsamkeitspraxis.
- Es gibt bereits erprobte Möglichkeiten, Menschen mit Angststörungen und Traumaüberlebende so zu ermächtigen, dass sie Achtsamkeitsmeditationen sicher ausüben können und diese dann als eine bereichernde (ergänzende) Ressource empfinden.
Zu 1. Menschen mit Angststörungen und Traumaüberlebende brauchen, bevor sie versuchen, sich in „in die Stille“ zu vertiefen, erst einmal Sicherheit und das Gefühl, selbst Kontrolle über ihr Innenleben zu haben. Genau diese Kontrolle ist ihnen oft abhandengekommen. Vielleicht sind sie im Alltag sehr „gut“ darin geworden, damit zurechtzukommen. Doch wenn sich jemand mit nichtintegriertem Trauma hinsetzt und versucht, sich nur auf den eigenen Atem zu konzentrieren, eine leere Weite aufzuspannen, dann passiert es eben doch schnell, dass sich diese Leere mit Flashbacks, überwältigenden Körperempfindungen, Ängsten etc. füllt. Das ist der Entspannung nicht zuträglich, sondern kann – im Gegenteil – sogar noch Stress verursachen, weil sich die betreffende Person dann manchmal sogar noch selbst unter Druck setzt, warum das mit der Meditation jetzt auch nicht funktioniert. Womöglich hatte sie große Hoffnungen darin gesetzt. Als gute Achtsamkeitstrainer/-innen ist es unter anderem unsere Aufgabe, diesem Personenkreis Angst zu nehmen und Sicherheit zu vermitteln. Diese Aufgabe kann mitunter erst einmal wichtiger sein als die Vermittlung der Achtsamkeitsmeditation an sich. Und: Als gute Achtsamkeitstrainer/-innen wissen wir um die Grenzen der von uns vermittelten Methoden. Ich persönlich verweise Personen mit Angststörungen und nichtintegriertem Trauma auf die Möglichkeit, Experten auf diesem Gebiet zu arbeiten. Hand in Hand funktionieren diese Ansätze nämlich ganz hervorragend.
Zu 2. Die Forschung zeigt, dass solche Flashbacks, überwältigende Emotionen, Empfindungen und Gefühle sich bei der Achtsamkeitsmeditation einstellen können. Achtsamkeitspraxis hingegen beinhaltet weit mehr als „nur“ Meditation. Es gibt also – neben der Achtsamkeitsmeditation – noch eine große Bandbreite von Achtsamkeitsübungen, die auch Menschen mit Angststörungen und Traumaüberlebende machen, sich dabei sicher fühlen und sie als große Bereicherung im Umgang mit ihren Schwierigkeiten empfinden können. Hierzu gehören verschieden Übungen, welche die Sinne einbeziehen, achtsame Bewegungen und andere Methoden aus der Achtsamkeitspraxis.
Zu 3. Und selbst die Achtsamkeitsmeditation kann für Menschen mit Angststörungen und Traumaüberlebende sehr gewinnbringend sein. Wie oben erwähnt ist es wichtig, dass diese Personengruppen zunächst ermächtigt werden, beispielsweise indem sie nach und nach lernen, dass sie auf ihr Nervensystem durchaus Einfluss haben. Parallel zu dieser Arbeit können sie neben dem Atem als Meditationsobjekt andere Meditationsobjekte kennenlernen, die besser dazu geeignet sind, zu „erden“. Auch können die Meditationsteilnehmer/-innen selbst bestimmte Modifikationen an den angeleiteten Meditationen vornehmen, um das Risiko von Überwältigung oder gar Retraumatisierung zu verringern.
All das kann natürlich nur dann geschehen, wenn wir als achtsame Trainer/-innen a) anerkannt haben, dass Achtsamkeitsmeditation für bestimmte Personenkreise auch Gefahren bergen kann; b) gelernt haben, welche Personenkreise das sind und wie wir ihnen Sicherheit vermitteln; c) in der Lage sind, die Arbeit mit solchen Themen selbst gut „auszuhalten“ (von einer Achtsamkeitstrainerin, die mit dem Thema Trauma so überfordert ist, dass sie seine Anwesenheit in der Achtsamkeitspraxis leugnen muss, hat kein Traumaüberlebender etwas); und d) darin geschult ist, wie Achtsamkeitsmeditationen angepasst werden können, um auch für Personen mit Angststörungen und/oder nichtintegriertem Trauma eine hilfreiche Ressource für ein zufriedeneres Leben zu sein. Im besten Fall sind Achtsamkeitstrainer/-in und Kursteilnehmer/-in als Team gemeinsam empfindsam für vorhandene Angststörungen /Traumen, der Angststörung/dem Trauma sowie dem/der Übenden zugewandt, wohlgesonnen und unter Zuhilfenahme vieler verschiedener Möglichkeiten mehr an einer dauerhaften als an einer schnellen Heilung interessiert.
(1) https://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/achtsamkeit-diese-therapie-kann-symptome-verschlimmern-17455829.html?premium von Felicitas Witte, aktualisiert am 28.07.2021 – 06:23, abgerufen am 31.08.2021
(2) https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0022399903005737?via%3Dihub
(3) https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/2167702621996340
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