Am 17.01.2022 erschien im Münchner Merkur der Artikel „Wenn man zu viel fühlt: Eine hochsensible Frau erzählt aus ihrem Alltag“. (Ich darf den Artikel nicht verlinken. Wer ihn lesen möchte, googele bitte „Münchner Merkur hochsensibel“). Er erwähnt das Münchner Zentrum für Hochsensibilität – ein Verein, in dem ich aktives Mitglied bin. Unter einigen von uns Mitgliedern ist seit dem Erscheinen des Artikels eine sehr interessante Diskussion entstanden. Wir reagieren teilweise ganz ähnlich, teilweise ganz unterschiedlich auf das, was dort geschrieben wurde. Klar, wir sind ja auch unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen. Geprägt ist die Diskussion von gegenseitigem Respekt, Einfühlungsvermögen, Ehrlichkeit, aufrichtigem Interesse aneinander und Höflichkeit. Wie bisher jede der Diskussionen, deren Teil ich innerhalb dieser Gruppe von hochsensitiven Menschen sein durfte.
Im Folgenden beschreibe ich einige meiner ganz persönlichen Reaktionen auf den und Gedanken zu dem Artikel. Das sind ausdrücklich meine persönlichen Meinungen, nicht die des Münchner Zentrums für Hochsensibilität.
Ich freue mich von Herzen, dass der Münchner Merkur dem Thema Hochsensibilität Platz einräumt. Und ich verstehe den Reiz davon, über eine „Betroffene“ zu berichten. Allerdings, so ehrlich möchte ich direkt am Anfang schon sein, wird der Ton des Artikels der ganzen Bandbreite der Erfahrung hochsensitiver Menschen meiner Meinung nach nicht annähernd gerecht. Kann er vermutlich auch gar nicht, denn wir sind eine höchst inhomogene Gruppe. Und: Die Hochsensibilität ist bei jedem und jeder von uns ein Teil der Identität. Ein wichtiger Teil zwar, aber eben nur ein Teil.
Den Artikel empfinde ich als stark negativ eingefärbt. Die verwendete Sprache widerspricht zentralen Inhalten des Artikels selbst. Hier die Aspekte des Artikels, die mich nachdenklich stimmen und zu denen ich etwas sagen möchte:
- Überschrift
- Name geändert
- „Diagnose“
- „Betroffene“
- „Stimmungsschwankungen“
- Wissenschaft in den Kinderschuhen
- Einseitige inhaltliche Darstellung
Überschrift: Wenn man zu viel fühlt
Lassen Sie mich beim Anfang anfangen. Mir ist völlig klar, dass eine Überschrift emotionalisierend sein muss und die Aufgabe hat, Leser/-innen in den Text zu ziehen. Das gelingt dieser Überschrift meiner Meinung nach. Wie so oft bleibt dabei die inhaltliche Ausgewogenheit auf der Strecke. Als hochsensibler Mensch fühlt man nicht zu viel. Da ist ein Mensch, der eben so viel fühlt wie er/sie fühlt. Die Schwierigkeit im Umgang mit Hochsensitivität ist nicht, dass da jemand „zu viel“ fühlt. Die Schwierigkeit liegt im bisher noch mangelnden Verständnis von dieser speziellen Art der Neurodiversität und dem noch nicht angemessenen Umgang damit. Das gilt für die persönliche, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Dimension. Die Bedürfnisse von Personen mit sensorischer Verarbeitungssensitivität werden in der heutigen Welt häufig ignoriert – von ihnen selbst und anderen. Daraus ergeben sich Probleme wie „Katharina“ sie beschreibt, wenn sie sagt „Das ist wie eine Welle, die über mich schwappt.“ Katharina fühlt nicht „zu viel“. Sie fühlt genau gut so wie sie fühlt. Sie und ihr Umfeld haben meiner Überzeugung nach nur noch nicht gelernt, wie ein Alltag aussieht, der ihre Bedürfnisse erfüllt, sodass sie all die positiven Aspekte der Hochsensitivität voll leben kann – wiederum zum Vorteil von sich selbst, ihrem Umfeld und ihrer Gesellschaft.
Name geändert
Katharina Schneider, die Dame, die im Artikel ihr Erleben der eigenen Hochsensibilität schildert, tritt nicht unter ihrem echten Namen auf. Ich betone, dass sie dafür sicher sehr gute Gründe hat. Vermutlich bestehen nach wie vor Vorurteile gegen „Sensibelchen“. Ich möchte mir auch nicht anmaßen, zu sagen, sie hätte unter eigenem Namen auftreten sollen. Ich möchte nur beschreiben, welchen Beigeschmack das für mich hat. Mit in den Medien geänderten Namen verbinde ich entweder Opferidentitäten oder Personen, die etwas getan haben, wofür sie sich schämen. Nun ist es durchaus so, dass man sich mit seiner „HSP-Identität“ gerade am Anfang noch unsicher und verletzlich fühlt. Und vielleicht ist das einer der Gründe für „Katharina“, ihren echten Namen nicht nennen zu wollen. Selbst wenn es ganz andere Gründe gibt, geht mich das im Prinzip nichts an. Was mich aber etwas angeht, ist: Diese Namensänderung impliziert, dass es hier etwas zu verdecken, verstecken, schützen gilt. Welchen Eindruck macht das auf Personen, die sich vielleicht selbst gerade damit auseinandersetzen, ob sie hochsensibel sein könnten? Können Personen mit sensorischer Verarbeitungssensitivität schambehafteten Konnotationen und Assoziationen effektiv entgegenwirken, wenn sie gleichzeitig das Gefühl haben, sich verstecken zu müssen, anstatt öffentlich, ja sogar zufrieden und laut zur eigenen Sensitivität zu stehen? Mein Name ist Saskia Ettling. Ich bin ein Mensch mit sensorischer Verarbeitungssensitivität und ich finde das richtig toll. Ich finde auch viele andere neurodiverse Menschen oft richtig toll. Und ich wünsche mir und arbeite daran mit, dass sich neurodiverse Personen dafür, dass ihre Nervensysteme anders funktionieren als die von vielen Menschen – anders ausgedrückt: dass die Nervensysteme von vielen Menschen anders funktionieren als ihre – nie schämen.
„Diagnose“
Völlig richtig schreibt der Artikel „Hochsensibilität ist jedoch keine Krankheit“. Warum dann im Absatz danach das Wort „Diagnose“ auftaucht, ist mir schleierhaft. Ich gehe trotz zahlreicher Warnungen im Alltag gerne vom Besten im Menschen aus nehme deshalb gern an, das war einfach eine Unachtsamkeit. Mögliche Begriffe, welche die Autorin hätte verwenden können, umfassen meiner Meinung nach: Erkenntnis, Einsicht, Aha-Erlebnis, neu erlangtes Wissen etc.
In eine ähnliche Kerbe schlägt die Verwendung des Terminus „Betroffene“. Eine Konnotation des Begriffes ist, dass da jemand von etwas in Mitleidenschaft gezogen ist. Dort, wo die Psychologin zu Wort kommt, wo sie von den Schmerzen spricht, die mit den als zu stark empfundenen Reizen einhergehen können, kann ich das nachvollziehen. Dort, wo von Vereinen und Selbsthilfegruppen die Rede ist, wünsche ich mir allerdings ein neutraleres Wort. Ein Wort, dessen Synonyme nicht einschließen: „Opfer, Verunglückte, Benachteiligte“. Beispielsweise Angehörige dieser Gruppe oder ganz simpel Hochsensitive. Insgesamt bedient sich der Artikel nach meinem Empfinden einer Sprache, die bei Leser/-innen unweigerlich ein sehr unglückliches Bild über sensorische Verarbeitungssensitivität zeichnet. Oder wie fühlen Sie sich so mit dem Begriff:
„Stimmungsschwankungen“
Stimmungsschwankungen beschreiben die Veränderung des emotionalen Zustands … „ohne adäquate äußere Ursache“. Dazu möchte ich gern folgende Gedanken äußern: Erstens. Veränderungen des emotionalen Zustands haben alle Menschen, völlig unabhängig von dem Grad ihrer Sensitivität. Zweitens: Die adäquate äußere Ursache für die Veränderung des emotionalen Zustands einer Person mit sensorischer Verarbeitungssensitivität mag für die meisten Nichthochsensiblen zwar nicht ohne weiteres erkennbar sein; doch das bedeutet mitnichten, dass sie nicht vorhanden ist. Die Ursache für die Veränderung des emotionalen Zustandes ist unter Umständen nur (noch) erklärungsbedürftig. Eine weniger abwertende und inhaltlich korrektere Zwischenüberschrift hätte beispielsweise heißen können „Intensive Emotionen werden missverstanden“.
Wissenschaft in den Kinderschuhen
Wie lange kann man von einer bestimmten Forschungsrichtung behaupten, sie stecke „noch in den Kinderschuhen“? Die Autorin selbst schreibt, dass Dr. Elain Aron den Begriff Hochsensibilität in den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat. Seitdem, das heißt seit 20 bis 30 Jahren, wird zu dem Thema geforscht. Die Liste von Institutionen, die sich weltweit damit beschäftigt ist lang und beinhaltet hier in Deutschland beispielsweise die Helmut-Schmidt-Universität (der Bundeswehr Hamburg). Ebenso haben sich die Forschungsansätze seitdem entwickelt und verändert. Nach meinem Kenntnisstand werden bildgebende Verfahren verwendet, um sensorische Verarbeitungssensitivität zu untersuchen; ebenso wie Untersuchungen der Konzentrationen von bestimmten Botenstoffen im Blut von hochsensitiven Menschen. Die Forschung zu sensorischer Verarbeitungssensitivität (so der aktuell in der Wissenschaft gebräuchliche Begriff) steckt meiner Meinung nach nicht mehr in den Kinderschuhen.
Einseitige inhaltliche Darstellung
Der Artikel endet mit dem Satz „Und man merkt dadurch, dass Hochsensibilität nichts Schlimmes ist.“ Selbstverständlich ist Hochsensibilität nichts Schlimmes. Dennoch hinterlässt die Gesamtheit des Artikels ein „Mei, die Arme“-Gefühl. Hat eine Diagnose, obwohl sie nicht krank ist. Hat Stimmungsschwankungen. Kann ihrem Beruf nicht mehr nachgehen. Ich möchte ganz deutlich nicht verleugnen, dass es ein mitunter langer Prozess sein kann, das eigene Leben auf die Hochsensitivität auszurichten. Dass man/frau während dieses Prozesses Frustration, Ängste, Scham, Einschränkungen etc. erlebt. Was ich aber ausdrücklich leugnen muss ist, dass das alles ist. Hochsensitivität ist nämlich auch etwas sehr Schönes. Es ist mir wichtig, dass vor allem Personen, die sich damit auseinandersetzen, ob sie selbst hochsensibel sind, das wissen.
Was mir zu einer einigermaßen ausgeglichenen Darstellung von Hochsensitivität klar fehlt, ist das Berichten von Hochsensiblen, die sich an ihrer eigenen Hochsensibilität sowie der anderer erfreuen. Für all die anderen Personen mit sensorischer Verarbeitungssensitivität und für mich selbst füge ich hier Beobachtungen darüber hinzu, was an Hochsensiblen absolut toll ist:
- Viele von ihnen sind sehr kreativ und schaffen ganz schöne Dinge
- Viele von ihnen sind sehr bewusst in Kommunikation und Handeln
- Viele von ihnen legen ausgleichende Verhaltensweisen an den Tag, was so manche Situation entschärft
- Viele von ihnen denken lange und tiefgreifend über Dinge nach, beschäftigen sich detailliert mit Themen, um sich Meinungen zu bilden
- Viele von ihnen haben einen Sinn für Gerechtigkeit und hohe Ansprüche daran, in der Welt Gutes zu bewirken (oder zumindest nicht zu sehr zu schaden)
- Viele von ihnen sind im besten Sinne des Wortes einfühlend
- Viele von ihnen haben ein aufrichtiges Interesse am Wohlergehen anderer Lebewesen
- Viele von ihnen sind – unter angemessenen Bedingungen – Hochleister
- Viele von ihnen sind sehr gut mit ihrem eigenen Körper in Kontakt
- Viele von ihnen sind sehr gut mit ihren eigenen Bedürfnissen in Kontakt
- Viele von ihnen sind zu tiefen Verbindungen fähig, die Menschen in ihrem Umfeld bereichern
- Viele von ihnen setzen sich sehr stark für das ein, was ihnen wichtig ist
- Viele von ihnen haben so viele tolle Merkmale, darüber könnte man gleich eine ganze Reihe von Artikeln schreiben
Ich danke von Herzen „Katharina Schneider“ für ihren Mut, überhaupt mit diesem Thema raus zu gehen. Dafür, dass sie eine derjenigen ist, die das Thema Hochsensitivität ins Bewusstsein rückt. Dafür, dass sie beim Verein mitmacht, der sich in Weilheim neu gründet. Dafür, dass sie ist, wer sie ist und mich heute dazu inspiriert hat, mit meiner Stimme auch etwas zum Thema sensorische Verarbeitungssensitivität zu sagen.